Probenprotokoll in ungewöhnlichen Zeiten
21. März 2020, Samstag, 19.30 Uhr
Wie jede und jeden hat auch uns das Covid-19 Virus unvorhergesehen getroffen und zu einer notwendigen Zwangspause unseres Probenprozesses an MACBETH geführt. Fünf Tage bis zur Premiere lagen vor uns als wir die Proben am 17. März einstellen mussten und der Theaterbetrieb schloss. Wann die Premiere sein wird, wissen wir nicht. Umso wichtiger war es Christian Friedel und mir die letzte Probenwoche zu dokumentieren. So ist eine Art Probenprotokoll entstanden, das ich mit einigen Tagen Abstand aus der Erinnerung geschrieben haben. Das Probentagebuch erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität. Es ist im Gegenteil lückenhaft und subjektiv, dafür umso persönlicher.
8. März 2020, Sonntag, 20 Uhr
Auf der Probebühne. Wir feiern unser traditionelles Bergfest anlässlich der ersten Hälfte unserer intensiven Probenzeit für MACBETH mit Pizza, Vino und Snacks. Der Mann am Plattenteller: Christian Friedel. Neben dem Stückensemble sind auch viele Kompars*innen, sämtliche Hospitant*innen und Assistent*innen da sowie die Kostümbildnerin, der Choreograph, der Light Designer, der Video Designer, die Band Woods of Birnam und der ein oder andere Techniker. Wir feiern, lachen und tanzen ausgelassen. Um 24 Uhr gibt es noch einen weiteren Anlass zum Freuen: Christian Friedel hat Geburtstag. Mehrstimmig wird ein Ständchen gesungen, dann noch eins und noch eins, Geschenke werden übergeben, hier ein Bussi, dort ein Bussi. Erst herzt man ausschließlich das Geburtstagskind, später herzen sich irgendwie alle, weil’s einfach schön ist. Unvorstellbar, dass das schon eine Woche später verboten sein wird. Aus den Lautsprechern ertönt Michael Jacksons WE ARE THE WORLD und alle grölen mit. Zu dem Zeitpunkt verschwendet keiner einen Gedanken daran, dass der Songtitel nur wenige Tage später derart auf die Probe gestellt wird und die internationale Solidarität schwindet.
9. März 2020, Montag, 11 Uhr
Auf der Bühne im Schauspielhaus. Aus verquollenen Augen blickend stolpere ich mit einen Espressoshot in die Probe. Obwohl kaum eine oder einer von uns länger als vier Stunden geschlafen hat, ist die Stimmung gut, die Probe produktiv.
In der kurzen Pause wundert man sich über die „Hysterie“ in Italien rund um das Corona-Virus: die Lombardei ist dicht und meine Italien-Reisepläne für Ostern damit gestorben. Aus Spaßgründen begrüßt man sich jetzt von Ellbogen zu Ellbogen oder Schienbein zu Schienbein. Die grotesken Begrüßungsrituale führen zu noch groteskeren Körperverrenkungen. Wir Theatermenschen sind es gewohnt, körperlich zu sein, Schauspielerinnen und Schauspieler geben täglich ihren vollen Körpereinsatz. Da ist es schon auffällig, wenn man sich bei einer Begrüßung jetzt erstmal fragt, ob man den anderen noch umarmen darf oder schon die Ellbogen sprechen lässt. Welches Ausmaß die Epidemie noch annehmen wird ahnt niemand von uns. Noch kommen weder social distancing noch smart distancing in jedem dritten Satz vor.
10.März 2020, Dienstag, 10 Uhr
Auf der Damentoilette im Schauspielhaus. Ich würde das Händewaschengebot ja gern einhalten. Allein es gibt weder Seife noch Desinfektionsspray mehr. Auf der Herrentoilette werde ich dann fündig. Einmal mehr plädiere ich für same-sex-Toiletten. Zurück auf der Bühne sehe ich gerade die Schauspielerin Nadja Stübiger ihre Handinnenflächen in den Zuschauerraum zeigend während sie folgenden Lady Macbeth Text spricht:
Meine Hände sind blutig wie die deinen; doch ich schäme mich, dass mein Herz so weiß ist. Ein wenig Wasser spült von uns die Tat, wie leicht dann ist sie!
Spült ein wenig Wasser auch von uns das Virus weg – unterdrücktes Lachen im Zuschauerraum.
Im Postfach die nächste Informationsmail mit Verhaltensregeln zum Corona-Virus vom Leiter der Personalabteilung.
Ein Freund aus Italien ruft mich an und berichtet mit bewegter Stimme aus seiner Heimatstadt Bergamo: „Die Dystopie, die wir im Theater so oft thematisieren, sie ist jetzt Wahrheit.“ Zum Ende des Gesprächs fragt er mich noch, ob wir nicht doch besser Camus’ DIE PEST machen wollen. In mein privates Tagebuch hatte ich einen Tag vorher noch notiert, dass ich die Maßnahmen der italienischen Regierung rigide finde…
11. März 2020, Mittwoch, 10 Uhr
Auf der Bühne des Schauspielhauses. Erstmals haben sich zwei Tänzer*innen krank gemeldet, eine Hospitantin schicke ich mit ihrer verschnupften Nase wieder nach Hause. Im Zuschauerraum liegen benutzte Taschentücher: Wer räumt die jetzt weg? Das Reinigungspersonal ist ohnehin schon am Verzweifeln, weil sie mit dem Nachfüllen der Seifen- und Desinfektionsspender nicht nachkommen. Und Toilettenpapier gibt es nur noch auf dem Schwarzmarkt. Geprobt wird trotzdem. In zehn Tagen ist Premiere. Davon gehen wir jedenfalls immer noch aus. Die gesunde Anspannung, je näher der Premierentag rückt, ist deutlich spürbar. Alle arbeiten mit höchster Präzision: Valentí Rocamora i Tora feilt an den Choreografien während Christian Friedel detailgenau am Gestus der Spieler*innen arbeitet, Johannes Zink leuchtet parallel zur Probe und entwirft für die Szene in der die Kinder der Macduffs getötet werden, eine Kathedrale aus Licht. Und Clemens Walter projiziert endzeitliche Filmbilder auf die Gase, die wenige Tage vorher in der Schlossruine Pilnitz gedreht wurden. Business as unsual. Unser Galgenhumor wächst.
In der Kantine bilaterale Gespräche zwischen Christian und mir: Spürbar kriecht der Virus in uns hinein, auch wenn wir ihn nicht haben. Verändert sich die Stimmung oder vollzieht sich in Wahrheit eine Wandlung in den Herzen? Hat der Bazillus des Misstrauens schon gestreut? Noch herrscht „tätiger Fatalismus“. Noch arbeiten wir alle mit vollem Einsatz. Noch fiebern alle der Premiere entgegen und wollen, dass dieses Baby am 21. März das Theaterlicht erblickt. Wie lange können wir diesen Enthusiasmus aufrecht erhalten? Wann schlägt die Produktivität in Stagnation um? Wann spielen unsere eigenen Ängste uns einen Streich?
12. März 2020, Donnerstag, 10 Uhr
Auf der Bühne des Schauspielhauses. Der Morgen beginnt mit Witzen über Hamsterkäufe: Die Deutschen horten Toilettenpapier, die Französinnen und Franzosen Kondome und Wein und die US-Amerikaner*innen Waffen. Ich beschließe Wahlfranzösin zu werden. Die Gerüchteküche brodelt: mittlerweile hat jede oder jeder eine oder einen im Bekannten- oder Familienkreis, der Symptome des Virus’ aufweist. Bei den meisten stellt sich raus, dass es doch nur die jahreszeitentypische Grippe ist. Unseren Video-Mann hat es auch erwischt. Husten, Kurzatmigkeit und Übelkeit – die Gefahr, dass es das Covid-19 Virus ist, besteht. Ich rate ihm zur Uniklinik zu fahren und bekomme wenig später die Nachricht, dass mit ihm 200 weitere Personen in eineinhalb Meter Abstand zueinander anstehen. Bekommt, wer den Virus noch nicht hat, er ihn jetzt in der Schlange? Die Zahl der Zuhausgebliebenen steigt jetzt von Tag zu Tag, so dass wir gar nicht mehr unter normalen Bedingungen proben können. Eigentlich sind es 40 Darsteller*innen auf der Bühne, tatsächlich sind es jetzt nur noch 32. Sämtliche Hospitant*innen und unser Stand-in sind jetzt gefragt und müssen bei viel Nebel und Gegenlicht komplexe Choreografien mittanzen. Den notwendigen Abstand von eineinhalb Meter hält niemand von uns ein.
Bei einem Espresso im komplett leeren Restaurant in Theaternähe werte ich mit Lena Imboden (Dramaturgiehospitantin) am Nachmittag die heutige Probe aus; die Auswirkungen des Virus auf die Produktion lassen sich schon gar nicht mehr von unseren Rückschlüssen und Überlegungen trennen.
Die für Samstag geplante Lange Nacht der Theater: abgesagt. Genauso die Matinee am Sonntag Vormittag bei der die nächsten Premieren vorgestellt worden wären.
In englischen Theaterkreisen heißt MACBETH nur das „Schottische Stück“. Denn jene bekannte Shakespeare-Tragödie ist verflucht. Jede und jeder, der vor dem Premierenabend das Wort „M“ in den Mund nimmt, trifft der Legende nach, der volle Zorn der Theatergötter. – Es scheint sich zu bewahrheiten, dass dieses Stück verhext ist. Christian Friedel inszeniert seinen MACBETH als bösen Albtraum aus dem der Titelheld am Ende als mehrfacher Mörder jäh erwacht. Erwacht die Welt gerade auch aus einem langen Schlaf? Weckt uns dieses Virus aus unserem bleiernem Schlaf? Tauchen wir jetzt auf aus diesem Konsumalbtraum, der Hektik, etwas zu verpassen, der Verwüstung der Umwelt?
In Bergamo rollen Panzer umfunktioniert als Leichenwägen: Bilder, die sich in unsere Herzen und Köpfe einbrennen. Und meine italienischen Freund*innen singen auf ihren Balkonen an gegen die Angst. Auch das Bilder, die niemand von uns vergessen wird.
14. März 2020, Samstag, 10 Uhr
Auf der Bühne im Schauspielhaus. Italienische Probe: Reine Textprobe mit dem Schauspielensemble. Stuhlkreis und Arbeitslicht. Ich bin beeindruckt wie konzentriert hier Text gedacht und gesprochen wird. Macbeth – das Hörspiel. Im ganzen Haus ist es ansonsten still. Am Ende der Probe zeigt sich deutlich Unsicherheit darüber, ob wir uns am Montag zur ersten Hauptprobe überhaupt wiedersehen. Spieler*innen kommen auf mich zu und bitten mich, sie auf dem Laufenden zu halten. Manche kommen aus Berlin oder anderswo her und möchten verständlicherweise wissen, ob die Anreise am Montag lohnt. Wir hoffen alle, dass die Hauptprobe am Montagabend stattfindet.
Indes haben alle Bundesländer Verbote für Großveranstaltungen mit 1.000, zum Teil auch weniger, Teilnehmer*innen verhängt, sowie regional unterschiedlich weitergehende Maßnahmen zur Unterstützung der sozialen Distanzierung wie das Schließen von kulturellen Einrichtungen (z.B. Museen, Theater, Konzertsälen). Zudem haben alle Bundesländer bekanntgegeben, ab Beginn der nächsten Woche Schul- und Kitaschließungen einzuführen oder die Unterrichtsverpflichtungen aufzuheben.
Über Kolleg*innen aus anderen Theatern in Deutschland, Österreich und der Schweiz weiß ich, dass sie ihre Mitarbeiter*innen bereits ins home office geschickt und den Probenbetrieb komplett eingestellt haben.
15. März 2020, Sonntag, 15 Uhr
Flughafen Dresden. Lena Imboden nimmt den letzten Flug nach Zürich, wo sie lebt. Damit geht mir eine kluge und engagierte Partnerin im Austausch über Textfassung und Bühnengeschehen verloren. Ich bedauere sehr, dass sie abreist, habe aber natürlich vollstes Verständnis.
Mein Telefon steht an diesem Sonntag nicht mehr still: seitens der Kompars*innen und seitens der Eltern der Kinderdarsteller*innen in MACBETH muss ich zahlreiche Bedenken auffangen und Absagen für die Montagsprobe entgegennehmen. Spieler*innen, die in Kontakt waren mit Personen, die unter Verdacht stehen Corona-positiv zu sein. – Böse, freilich, bin ich niemandem. Die größte Herausforderung jetzt ist in solch einer Krisensituation dennoch solidarisch zu bleiben. Zwischendurch immer wieder Rücksprachen mit dem Intendanten Joachim Klement, Christian Friedel und der Regieassistentin Camilla Körner und gegenseitige Abstimmung wie wir weiterverfahren.
Insgesamt wurden in Deutschland für diesen Tag (Stand 15 Uhr) 4.838 laborbestätigte SARS-CoV-2-Infektionen aus 16 Bundesländern berichtet. Seit dem 09.03.2020 wurden in Deutschland 12 (+4) Todesfälle in Zusammenhang mit COVID-19- Erkrankungen berichtet. Zwei weitere COVID-19-Todesfälle wurden bei deutschen Touristen einer Nilkreuzfahrt in Ägypten berichtet.
Die Bundesregierung beschließt die Schließung der deutschen Grenzen zu Dänemark, Frankreich, Luxemburg, Österreich und Schweiz ab dem 16.03.2020.
16. März 2020, Montag, 11 Uhr
Ausnahmezustand jetzt auch im Schauspielhaus. Kurze Abstimmung zwischen der Dramaturgie und der Theaterleitung, wer wo wann bekannt gibt, dass die Proben nach der heutigen Abendprobe eingestellt werden. Trotzdem soll die Hauptprobe im Kleinen Haus von SUBURBAN MOTEL und die MACBETH-Probe, die aufgrund der Krankschreibungen ohnehin keine Hauptprobe mehr sein kann, genutzt werden, um den jeweiligen Arbeitsstand zu dokumentieren.
Zum Lachen ist uns jetzt nicht mehr zu Mute. Der Biorhythmus der Produktion ist unterbrochen. Bleierne Enttäuschung in den Gesichtern. Wir wissen nicht, wann wir uns wiedersehen. Wir wissen nicht, wann unser MACBETH seine Premiere haben wird. Wir wissen nur, dass wir nichts wissen. Normalerweise wird auf der Bühne der Ausnahmezustand verhandelt. Jetzt sind wir selbst in diesem Ausnahmezustand. Ich tröste eine Tänzerin, die mit verweinten Augen fassungslos eine Vorstellungsabsage nach der anderen per mail entgegennehmen muss und um ihre Existenzgrundlage bangt. Auf der Bühne sehe ich wie die feuchte Aussprache mancher Kolleg*innen ihr Gegenüber verunsichert, wo noch vor drei, vier Tagen keine oder keiner mit der Wimper gezuckt hätte. Umarmungen zur Begrüßung finden längst keine mehr statt. Wenn ich mit Ellen Hofmann (Kostümbildnerin) spreche, achten wir umkommentiert darauf, dass zwei Sitzplätze zwischen uns frei bleiben. Manche in der Produktion sorgen sich um ihre Familienmitglieder, die im Ausland sind und nicht wissen, wie sie zurückkommen sollen. Manche nehmen es mit Humor und malen sich ihren neuen Alltag zu Hause in den rosigsten Tönen aus.
Die Probe am Abend findet noch statt und tatsächlich sind alle froh, dass wir einmal durch das ganze Stück gegangen sind – freilich mit Unterbrechungen, technischen Unklarheiten, ohne Maske und ungeprobtem Schluss. Der Schlusssatz unserer Textfassung hallt noch nach:
life is but a poor player
life is but a tale
full of sound and fury and exuberance
told to us by an idiot
who stands upon the stage and then
then is heard no more
leben ist nur ein armer schauspieler
leben ist nur eine geschichte
voller schall und raserei und überschwang
erzählt von einem blödling
der auf der bühne steht und dann
nicht mehr vernommen wird
In der Kantine nach der Arbeitsprobe teils gelöste, teils ratlose Gesichter: Wann werden wir uns wiedersehen? Werden wir uns alle wiedersehen? Wird „das Leben, dieser armer Schauspieler“, wie es bei Shakespeare heißt, irgendwann „vernommen werden“? Wie weise klingen die Shakespeare-Verse: „Leben ist nur eine Geschichte voller Schall und Raserei und Überschwang, erzählt von einem Blödling“. Wie wird unser Leben post-Corona sein? Werden wir noch die selben sein? Worüber werden wir uns rückblickend wundern? In welchem Zustand wird die Arbeit sein an der so viele Menschen bis hierhin mitgewirkt haben, auf die wir alle uns so sehr gefreut haben? – Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Fügt sich dahinter eine neue Welt zusammen, deren Formung wir neu gestalten können? Werden wir uns wundern, dass wir in der Entschleunigung neues Potenzial in uns entdeckt haben? Dass wir trotz social distancing solidarisch und konstruktiv bleiben konnten? Dass wir Humor und Mitmenschlichkeit gezeigt haben trotz oder gerade wegen des Virus’? Wird Donald Trump im November vielleicht gar abgewählt und die Spaltungspolitik der AfD kaum mehr eine Rolle spielen, weil deutlich geworden ist, dass mit Populismus keine Zukunft zu machen ist? – Eines ist sicher: Irgendwann wird es wieder heißen: Vorhang auf!
Für jetzt gehen wir alle unserer Wege in eine ungewisse Zukunft; das Virus hat uns jegliche Planbarkeit und Kontrolle entzogen, die wir eigentlich eh nie hatten und haben, denke ich noch hinterher.
Mail vom 8. Mai 2020
Das Staatsschauspiel Dresden plant einen neuen Probebeginn ab 5. Januar 2021 mit einer Premiere am 23. Januar 2021. „Mist“, denke ich, „da stecke ich in Endproben an meiner neuen Wirkungsstätte.“ Und: „Schade, mit Christian verbindet mich seit meinem Beginn am Staatsschauspiel eine enge Zusammenarbeit: „Der Kaufmann von Venedig“ in der Regie von Tilmann Köhler ist mir, den Spielensemble und Team bis heute unvergessen. Christian hatte damals Portia gespielt und es sollten noch viele andere Arbeiten kommen. Ihn jetzt als Regisseur und in der Titelrolle zu begleiten, wäre, für mich, ein krönender Abschluss unserer Zeit am Theater in Dresden.“
Zwischen Mai 2020 und Februar 2022 werden etliche Wiederaufnahme-Szenarien durchgespielt. Alle müssen aufgrund der Pandemie langfristig oder kurzfristig wieder verschoben werden.
17. September 2021, Freitag, Frankfurt am Main
Treffen mit Christian in Frankfurt am Main, wo er gerade für den Tatort dreht. Bei Antipasti lassen wir Revue passieren, was uns da mit der Pandemie ereilt hat, analysieren rückblickend den Ist-Zustand der bisherigen Probenarbeit und schmieden Pläne, wie es weitergehen könnte. Eine leise Melancholie schwingt in allen Überlegungen mit. Wir wissen beide nicht, ob und wann und in welcher Menschenkonstellation dieser Macbeth das Bühnenlicht erblicken wird.
Mail von Anfang Dezember 2021
Beinahe erfreut erreicht mich Anfang Dezember 2021 die Nachricht: Die Premiere Macbeth ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Dieser Dauererregungszustand, ob und wann Macbeth zur Premiere kommt, ist zermürbend.
Dann! Macbeth reloaded – Nach zahlreichen Verschiebungen, Teilöffnungen und Schließungen entscheidet die Theaterleitung, die Spielzeit 2022/23 mit Macbeth zu eröffnen. Das komplette Regieteam wird dabei sein; leider müssen einige Tänzer:innen neu gecastet werden, weil sie in anderen Arbeitszusammenhängen stecken.
Ein Tag im Januar 2022 gegen 19 Uhr
Zoom-Meeting Team: alle freuen sich, dass wir in der alten Konstellation zusammenkommen. Sehe ich Erleichterung in den Gesichtern, dass wir noch alle am Leben sind? Wer werden wir gewesen sein? Die ersten Sätze kommen zögerlich. Nur schleppend kommt ein Gespräch in Gang. Wahrscheinlich bangen alle, ob der neue Termin gehalten werden kann.
24. Februar 2022, Donnerstag , 7.25 Uhr
Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Ich bin beruflich auf dem Weg nach Offenbach. Ein Gedanke blitzt zwischen Verzweiflung und Fassungslosigkeit auf: Unser Macbeth muss, nein, er wird ein anderer sein. Kurznachricht von mir an Christian: Weiter wie bisher geht seit heute nicht mehr. Wir müssen Macbeth neu denken. Christian antwortet sofort: Ja, es braucht eine komplett neue Fassung.
Wir entscheiden, die Dorothea Tieck mit der Heiner Müller Übersetzung zu verschneiden. Christian macht sich sofort an die Arbeit. Wenige Tage später kommt die neue Spielfassung. Dank der Müller-Übersetzung ist der Text jetzt härter, direkter. Regieanweisungen, Lichtstimmungen, Bühnenfahrten haben sich verändert und deuten darauf hin, dass dieser Macbeth im Verlauf des Abends deutlich fanatischer wird als noch in der vorherigen Fassung.
11. Mai 2022, Mittwoch
Shooting für das Macbeth-Plakat mit dem Theaterfotografen Sebastian Hoppe. Vorm mir liegen die beiden Plakatmotive – das erste von 2020 und das aktuelle. Ich mache eine deutliche Wesensveränderung in Christians Mimik und Gestik aus. Das alte Motiv zeigt einen zögerlichen, angstbehafteten Macbeth. Aus dem neuen hingegen spricht das genuin Böse aus Gesicht und Körper. Macbeth, der blutrünstige Tyrann, blickt einem jetzt entgegen; die Angst bleibt dennoch sichtbar, subtiler jetzt.
11. Juni 2022, Samstag
Ist es wahr? Soll es jetzt wirklich noch einmal so weit sein? Starten wir erneut in die Proben für Macbeth? Die mail von Christian kündigt jedenfalls die erste Probenphase an. Vorsichtige Vorfreude kündigt sich in mir an.
13. Juni 2022, Montag, 11 Uhr, Probebühnenzentrum in der Charlotte-Bühler-Straße, Dresden
Es geht tatsächlich wieder los! Aus allen Ecken werden Stühle für die Konzeptionsprobe herangeschafft. Draußen scheint die Sonne. Durch die beiden geöffneten Bühnenprobentore weht ein frischer Wind. „Den brauchen wir jetzt auch“, denke ich. „Nichts ist schlimmer als ‚Aufgewärmtes‘ wie Thomas Bernhard sagen würde“. Peu á peu trudeln alle ein. Ich suche in ihren Gesichtern und Körpern nach Veränderungen. Wir werden andere gewesen sein. Ist es Projektion oder sieht man manchen Körpern an wie sehr sie unter der langen Zeit der Kontaktentbehrungen gelitten haben? Manche zögern beim Begrüßungsritual: Ellbogen oder doch lieber Umarmung. Die meisten entscheiden sich für Umarmung.
Konrad Neidhardt und Moritz Rogner, die alternierend Fleance spielen, waren zwei Köpfe kleiner als wir vor zwei Jahren auseinander gegangen sind. Sie sind jetzt junge Männer mit tiefen Stimmen. Die neu gecasteten Tänzer:innen fremdeln noch und suchen sichtlich nach Orientierung in der Menge der Menschen. Es ist eine riesige Truppe, die da zusammengekommen ist. Über 40 Menschen sind es allein auf der Bühne, hinter der Bühne wirken noch viel mehr mit. Christian eröffnet die Konzeptionsprobe auf seine charmante Art und Weise. Auffällig schon hier: Während er spricht ist es mucksmäuschenstill. Ein Zustand, dessen Zeugin ich in den kommenden Wochen noch oft werden darf.
14. Juni 2022, Dienstag 10 Uhr
Es geht direkt in medias res. Geteilte Einzelproben mit den Spieler:innen, parallel dazu probt Valenti Rocamora i Tora mit dem Tanzensemble und Christian feilt zwischen den Proben mit Woods of Birnam weiter an den Songs. Der Wald bewegt sich mächtig auf die Zielgerade zu. Für die ersten Tage heißt es bei allen vor allem: Sich-Erinnern. Aber bald schon gehen wir in die Tiefenschürfung, diskutieren die Veränderungen an der Fassung, vergleichen die Übersetzungen immer wieder mit dem Original und graben uns ein in den Macbethschen Wahnsinn. Wenn es stimmt, dass Shakespeare uns alle erfunden hat: Wie böse kann jede:r von uns sein? Ist das vielleicht das Beunruhigendste an Macbeth, dass es etwas an diesem Machthaber gibt, das uns das schlimme Schauspiel grimmig genießen lässt? Worin liegt die Faszination am Bösen?
7. Juli 2022, Donnerstag, 22.30 Uhr
Wieder gibt es einen hohen Krankheitsstand – ob es am Ende der Spielzeit liegt und an dem Kräftemangel nach einer weiteren Covid-Spielzeit oder an den zahlreichen Covid-positiv-Ausfällen lässt sich schwer sagen. Land auf, Land ab wissen die Theater oft morgens nicht, was sie abends spielen. Das Virus zehrt an unser aller strapaziertem Nervenkostüm. Umso wichtiger sind jetzt die Theaterferien. Zuversichtlich, dass wir uns am 22. August im Team und ab dem 25. alle wiedersehen, verabschieden wir uns voneinander und klopfen dreimal auf Holz.
22. August 2022, Montag, 10 Uhr, Zuschauerraum des Staatsschauspiel Dresden
Christian ist bereits am Tonqueues durchsprechen. Später am Tag werde ich Zeugin wie einem Lichttechniker die Kinnlade runterfällt als Christian aus dem Kopf Lichtstimmung 126 ansagt; er kennt tatsächlich alle Lichtstimmungen auf das Stichwort genau auswendig. Der erste Tag läuft ruhig an; es geht ausschließlich um technische Abläufe: Hubpodienfahrten, Video- und Toneinsätze. Die Technik hat sichtlich Spaß und arbeitet lösungsorientiert und kreativ an Christians Wünschen. Joachim Klement, der Intendant, kommt kurz vorbei und wünscht allen eine gute neue Spielzeit.
23. August 2022, Dienstag, 10 Uhr
Der Bühnenbildner Alexander Wolf ist angereist und klärt mit Christian und Bühnenmeister Bernd Mahnert etwaige Bühnenfahrten. Die Regieassistentin Vanessa Ziems leistet großartige Arbeit. Es ist ihre erste Regieassistenz am Staatsschauspiel Dresden. Sie hat die Assistenz von Louisa Rogowsky übernommen da Louisa ans Berliner Ensemble gewechselt ist. Es ist ein Sprung ins kalte Wasser. So viele Einzelbedürfnisse, die hier befriedigt werden wollen, Anfragen, Nachfragen und gerade weil Christian selbst auf der Bühne steht, muss das Regiebuch besonders exakt geführt sein, weil Christian sich auf ihren und meinen Blick von „unten“ verlassen muss.
Valenti Rocamora i Tora probt indes parallel mit dem Tanzensemble auf der Probebühne unterm Dach – auch diese Proben hat Vanessa im Blick und zeichnet sich für die Organisation und Dokumentation verantwortlich. Währenddessen leitet Christian die Kompars:innen an und geht die ersten Szenen im Bühnenraum durch mit ihnen durch.
25. August, Donnerstag, 10 Uhr
Im Zuschauerraum begrüßt Joachim Klement alle Neuzugänge und wünscht – bei allen Herausforderungen – allen eine gute Spielzeit 2022/23. Direkt im Anschluss beginnen wir mit den Proben. Ein großes Hallo zwischen Schauspiel- und Tanzensemble und Team. Torte gibt es auch denn Ahmad Mesgarha hat Geburtstag. Die Kostümbildnerin Ellen Hofmann hat ihm für seine Rolle des König Duncan eine Krone anfertigen lassen. Heute ist sie vor allem die Geburtstagskrone. Das Torte-Schlemmen ist zeitbegrenzt, wir haben einen straffen Probenplan, deshalb mahnt Christian nach wenigen Kuchengabeln zum Probebeginn mit allen auf die Bühne. Es wird ein intensiver Probentag. Ich sitze in Christians Nähe, der mit Handsender und Mikroport versehen, vom Regiepult aus in doppelter Mission agiert: wenn er in den Handsender spricht, ist er Regisseur. Wenn er durchs Mikroport spricht, Macbeth. Und manchmal ist er auch Macbeth mit Handsender. Dann erkennt man Macbeth über die Sprache. Diese Transferleistung ist des Regisseur-Seins einerseits und Macbeth-Spielens andererseits ist schlicht weg beeindruckend und zeigt Christians eiserner Disziplin. Es passt zu seinem Selbstverständnis als Künstler. Für das Stückensemble ist es indes auch eine große Herausforderung mit einem Hauptdarsteller zu spielen, der zum großen Teil aus dem Zuschauer:innenraum agiert. Insbesondere Nadja Stübiger, die Lady Macbeth mimt, leistet hier Enormes, in dem sie sich ihren Bühnenmann fantasiert. Aber auch alle anderen müssen permanent aufmerksam im Gedächtnis haben, wo Christian als Macbeth gerade auf der Bühne unterwegs wäre.
26. August, Freitag, 11.30 Uhr
Etliche Interviewfragen trudeln ein, der Theaterpädagoge steckt kurz den Kopf zur Tür rein und scheint so fasziniert vom Bühnengeschehen, dass er neben mir Platz nimmt und mich Löcher in den Bauch fragt. Ich gebe ihm gern Auskunft. Sein Fuß wippt bei „something wicked“ eifrig mit. Ich schmunzle und denke: Ein weiterer groupie. Später sprechen wir noch über ein mögliches Angebot von Vor- und Nachbereitung für Schulklassen und verständigen uns darüber, dass geklärt werden müsste, ob und wann Vormittagsvorstellungen für Schulklassen angeboten werden können. Es gibt bereits erste Anfragen von Lehrer:innen.
29. August 2022, 20.31 Uhr
Stille. — Mir fällt immer wieder diese enorme Ruhe bei den Proben auf. Christian schafft eine Probenatmosphäre größter Konzentration. Die Pausen hält er kurz, um möglichst wenig der gemeinsamen Energie einzubüßen.
Aus meiner Sicht als Dramaturgin ist es außerdem meistens ein sicheres Zeichen, dass ein Ensemble hinter einer Arbeit steht, wenn die Spieler:innen auch dann noch im Zuschauer:innenraum sitzen und zuschauen obwohl sie für den Tag längst „abgespielt“ sind. Der Saal ist voll mit Spieler:innen, Tänzer:innen, Kompars:innen, die gerade nicht auf der Bühne stehen müssen.
Julia Weinreich
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